Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche
Ulrich H. J. Körtner
Immer schon waren die Sprache der Moral und die Emotionen, die sie zu wecken vermag, ein Mittel der Politik. Gegenwärtig jedoch greifen Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Gesellschaft in einem für die moderne Demokratie bedenklichen Ausmaß um sich, und das geschieht auch in den Kirchen.
Wie es die Aufgabe der Ethik ist, vor zu viel Moral und ihren Ambivalenzen zu warnen, so ist es die Aufgabe der Theologie, die Unterscheidung zwischen Religion und Moral in Gesellschaft, Politik und Kirche bewusst zu machen.
In der Sprache der reformatorischen Tradition: die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Sie ist das Herzstück theologischer Vernunft und fördert die politische Vernunft. Nur wenn beide in ein konstruktives Verhältnis gesetzt werden, lässt sich der Tyrannei des moralischen Imperativs in Politik und Kirche Einhalt gebieten.
[Political and Theological Reason. Against Moralization and Emotionalization in Politics and Church]
The moral imperative is booming today. »Rise up!« »Outrage!« »Get rid of your fears!« … the opportunity to be upset out of high moral reasons gives a good feeling, the moral imperative carrying the good news: We are the good people! On the other hand, anybody who, like Max Weber, argues for a distinction – not separation! – between politics and morals and understands politics as a rational craft, as the persistent drilling through thick boards, has a hard time facing the morally charged atmosphere of today.
Zum Autor
Ulrich H. J. Körtner, Dr. theol., Dr. h. c. mult., Jahrgang 1957, ist seit 1992 Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und seit 2001 auch Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien.
Körtner ist u. a. Mitherausgeber der Zeitschrift für Evangelische Ethik, der Theologischen Rundschau sowie der Schriftenreihen »Arbeiten zur Systematischen Theologie« (Leipzig), »Ethik und Recht in der Medizin« (Wien) und »Edition Ethik« (Göttingen).
Ulrich Körtner bekam 2016 das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse der Republik Österreich verliehen und ebenfalls 2016 von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften den Wilhelm-Hartel-Preis für sein Gesamtwerk.